Tuesday 2 September 2014

Schäfer in Sachsen: Mit Leidenschaft, ohne Zukunft

Grüne Weiden, duftendes Heu und Seelenruhe scheinen wie die perfekte Idylle. Doch Schafehüten ist kein Traumjob. Geringer Verdienst und fehlender Nachwuchs bedrohen die Existenz der sächsischen Schäfer.

Uwe Keinert und seine Partnerin Branka Buck kümmern sich um die kleinen Lämmer. Foto: Tanja Goldbecher

Behutsam streicht er Otto über das weiße Maul. Der Ostfriesische Milchschafbock lugt zwischen den Holzstäben hervor. Sobald sich Uwe Keinert seinem Stall nähert, beginnt der Bock zu blöken. Es ist sechs Uhr am Morgen, Zeit für die erste Fütterung. Keinert verteilt Berge von Heu auf die Futterraufen der Schafe. Eine Schippe Kraftfutter veredelt die Mahlzeit. Otto schnauft, als er sein Maul in den trockenen Grashalmen vergräbt.


Uwe Keinert, 55 Jahre alt, ist einer von rund 100 hauptberuflichen Schäfern in Sachsen. Insgesamt leben etwa 135.000 Schafe im Freistaat. Zwei von drei Tieren werden in landwirtschaftlichen Betrieben gehalten. Der Rest liegt in der Obhut von Hobbyschäfern. Auch für Uwe Keinert begann das Schafehüten zunächst als Hobby. Vor zehn Jahren erkannte er darin seine Berufung. Nun klingelt sein Wecker an 365 Tagen im Jahr gegen fünf Uhr. Dann holt er die Zeitung aus dem Briefkasten und dreht seine erste Runde über den Hof. „Viecher sind wie Kinder, um die muss man sich auch jeden Tag kümmern“, sagt Keinert. Gemeinsam mit seiner Partnerin Branka Buck, seinen Eltern und der Hütehündin Cora wohnt er in Olbernhau im Erzgebirge. Von dem alten Bauerngut aus blickt er auf grüne Wiesen und kleine Hügel. In zwei Kilometern Luftlinie befindet sich die Grenze zu Tschechien. Tagsüber grasen die Schafe auf Koppeln. Die Nacht verbringen sie auf Heu im Stall – und Uwe Keinert liegt beruhigt im Bett. So muss er sich nicht um Wölfe oder ausbrechende Schafe sorgen.

„Wir erleben hier alles, den Beginn und das Ende des Lebens.“
Uwe Keinert  Schäfer


Über jedem Stall hängt ein grünes Schild: Mit Kreide sind darauf achtstellige Registriernummern und Geburtsdaten der Schafe geschrieben. Branka Buck schrubbt zwei Wassereimer mit einer Bürste sauber. Als sie die Eimer mit frischem Wasser zurück in den Stall bringt, drängen sich die Schafe dicht um sie. Mit ihren Händen berührt sie die durstigen Mäuler. Die kleine Liebkosung gehört zum Ritual der Fütterung dazu. „So wie ich mit den Tieren umgehe, kommt es auch zurück.“ Branka Buck spricht von ihren „Mädchen und Jungs“, die nach zwei bis drei Stunden alle versorgt sind. Bis auf das leise Malmen der Wiederkäuer herrscht Ruhe im Stall. Branka Buck, 48 Jahre alt, stammt aus der bosnischen Stadt Novi Travnik. Während des Krieges Anfang der 90er-Jahre ist sie nach Kroatien geflüchtet und später nach Deutschland ausgewandert. Vor fünf Jahren hat sie Uwe Keinert kennengelernt. Das Leben und die Arbeit mit den Schafen gefielen ihr von Anfang an. Heute kümmert sie sich am liebsten um die Lämmer: „Die sind einfach so goldig.“ Schon Uwe Keinerts Großeltern und Eltern haben auf dem Grundstück Kühe, Schweine und Pferde gehalten. 1953 wurde die Familie vom Gut vertrieben. Nach der Wende gelang es ihr, den Hof wiederzubekommen. Heute stehen rund 200 Dorperschafe in den Ställen. Ihre weiße Wolle gleicht einem Mantel, der bis zu den schwarzen Köpfen reicht. Keinert betreibt Stammzucht mit der Rasse. Die Tiere verkauft er in Deutschland und in einigen europäischen Ländern. Hinzu kommen 40 weiße Ostfriesische Milchschafe, um Schlachtlämmer zu erzeugen. „Wir erleben hier alles, den Beginn und das Ende des Lebens“, sagt Uwe Keinert.

Fünf bis sechs Monate nach der Geburt wird ein Teil der Lämmer an verschiedene Schlachtbetriebe geliefert. Für ein Kilogramm Lebendgewicht erhält der Schäfer rund 2,50 Euro. Ein Mastlamm wiegt um die 43 Kilo. Das Lammfleisch und der Zuchtbetrieb erbringen rund zwei Drittel seines Einkommens. Mit der Wolle seiner Schafe macht er keinen Gewinn. 90 Cent pro Kilo reichen gerade dafür, den Scherer zu bezahlen. Weil sich die Tiere im Sommer ohne die Wolle wohler fühlen, lässt er sie trotzdem scheren. „In manchen Monaten verdienen wir so wenig, dass es lediglich zum Weiterarbeiten reicht“, sagt Keinert. Jedes Jahr sinkt bundesweit die Anzahl der Schafe. Etwa 54.000 Mutterschafe wurden im vergangenen Jahr registriert. Das ist ein historischer Tiefststand. Vor zehn Jahren waren es noch rund 93.000. Europaweit haben sich die Schafbestände in den letzten zehn Jahren um 30 Prozent verringert. Veränderungen in der EU-Agrarpolitik sind zum Teil dafür verantwortlich. So wurde 2005 die Mutterschafprämie, das heißt ein Zuschuss pro Tier, abgeschafft. Nun erhalten die Schäfer wie alle Landwirte Fördergelder pro Hektar, den sie bewirtschaften. Bio-Betriebe, die auf synthetische Dünger und Pestizide verzichten, bekommen zusätzliche Mittel. Das ist bei Uwe Keinerts 53 Hektar großer Fläche der Fall. „Für mich kommt nichts anderes infrage als Ökolandbau“, sagt der Schäfer. In seine Lämmer will er keine Giftstoffe pumpen. Dafür verbringt er jede Woche ein paar Stunden am Schreibtisch. „Fast jeder Schäfer ist ein Ökolandwirt, aber die Zertifizierung ist zu aufwendig“, sagt Keinert.

Dass der geringe Verdienst die Existenz der Schäfer bedroht, hat auch die Politik erkannt. „Wir brauchen Schafe und wir brauchen Schäfer“, betont Frank Kupfer, CDU, Landwirtschaftsminister in Sachsen. „Ohne Schäfer stirbt eine Tradition aus und das ländliche Leben wird an Attraktionen ärmer.“ Der Freistaat will die Schäfer stärker unterstützen. Für mehr Flächen als bisher soll es Prämien geben. Uwe Keinert sieht darin einen guten Ansatz: „Wir halten die Kulturlandschaft frei und erbringen damit eine Dienstleistung für die Gesellschaft.“ Ein Drittel seines Einkommens besteht aus den öffentlichen Geldern. Auch in Heiden oder im Gebirge halten Schafe das Gras auf Maß, ohne die Pflanzenvielfalt zu zerstören. Wenn sie Deiche beweiden, verdichten sie den Boden und leisten einen Beitrag zum Hochwasserschutz.

Vom Traumberuf Schäfchenzählen kann also nur bedingt die Rede sein. Im Januar 1998 hat Uwe Keinert zum letzten Mal eine Woche Urlaub gehabt. „Wenn man sich entscheidet, Landwirt zu sein, dann weiß man, worauf man sich einlässt“, sagt der Schäfer. Diese Entscheidung ist Stück für Stück in ihm gewachsen. Er hat Baustellen inspiziert, im Büro gearbeitet und seine Zeit auf Autobahnen verbracht, bis er sich entschloss, Schafe zu hüten. Heute ist er nicht von Kollegen oder Vorgesetzten abhängig, sondern von der Farbe des Himmels. Mehrmals täglich liest er den Wetterbericht. „Unsere Existenz hängt davon ab, wie der Sommer verläuft.“ Wenn die Sonne scheint und der Wind weht, kann er das Gras mähen und zum Trocknen ausbreiten. An anderen Tagen schneidet er die Klauen seiner Tiere. Zurzeit beschäftigen den Schäfer 50 Lämmer. Die Zwillinge Gisela und Gisi sind vor einem Tag geboren worden. Manchmal muss Keinert den Schafen helfen, wenn die Lämmer zum Beispiel falsch herum aus dem Mutterleib kommen. Gegen 23 Uhr dreht Uwe Keinert seine letzte Runde durch den Stall. Oft denkt er an die Zukunft des Familienbetriebs. Branka Buck hat einen erwachsenen Sohn, Uwe Keinert einen Sohn und eine Tochter. Doch kein Kind möchte die Schäferei übernehmen. Vielen Schäfern fehlt der Nachwuchs. Die Familienbetriebe können oft keinen Lehrling bezahlen. „Für mich gibt es keinen schöneren Beruf“, betont Uwe Keinert. Im nächsten Jahr sollen einige Bienenvölker den Biobetrieb ergänzen. Er fühlt sich trotz der körperlichen Anstrengung auf dem Hof wohler als im Büro. Die harte Arbeit des Schäfers wird durch die Natur und die Tiere entschädigt.

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