Wednesday 30 September 2015

„Ende der ostdeutschen Bescheidenheit“


Zwickau. 25 Jahre nach der Wiedervereinigung hat sich die Otto-Brenner-Stiftung die Entwicklung der Gewerkschaften in den neuen Bundesländern angeschaut. Gestern sind die Ergebnisse der Studie veröffentlicht worden. Tanja Goldbecher hat mit dem Wissenschaftler Marcel Thiel, der für die Forschung auch die IG Metall Zwickau einbezogen hat, gesprochen.

"Freie Presse": In Ihrer Studie haben Sie herausgefunden, dass die Gewerkschaften im Osten einen Aufschwung erleben. Woran machen Sie das fest?
Marcel Thiel: Zunächst an den Mitgliederzahlen. Wir haben die IG Metall und die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) untersucht. Beide haben nach massiven Verlusten seit Anfang der 90er-Jahre in den letzten Jahren wieder mehr Mitglieder gewonnen als verloren. Allein die Anzahl der erwerbstätigen Mitglieder ist in der IG Metall gegenüber 2007 um rund 14 Prozent und in der NGG gegenüber 2005 um rund 12 Prozent gestiegen. Außerdem wurden in den letzten fünf Jahren mehr Betriebsräte gegründet und neue Tarifabschlüsse erstritten.
Woher kommt das?
Dahinter verbirgt sich ein Wandel im gesellschaftlichen Klima. Gewerkschaften werden wieder häufiger als Möglichkeit angesehen, sich für die eigenen Interessen einzusetzen und sich wachsenden Zumutungen im Betrieb zu widersetzen. Womöglich beobachten wir das Ende der ,ostdeutschen Bescheidenheit'.
Sie haben auch die IG Metall Zwickau befragt. Wie hat sich die Gewerkschaft entwickelt?
Die IG Metall Zwickau hat sich sehr positiv entwickelt. Sie verzeichnete bis Anfang der 2000er-Jahre große Mitgliederverluste und musste Personal abbauen. Aus diesem Teufelskreis ist sie raus. Mit mehr als 26.000 Mitgliedern, acht Hauptamtlichen und sechs Verwaltungskräften ist sie heute eine der größten IG Metall-Verwaltungsstellen im Osten.
Welche Rolle spielt dabei die Automobilindustrie?
Der Beschäftigungsaufbau in dieser Branche wirkt sich auch positiv auf den Mitgliederzuwachs der IG Metall aus. Im VW-Fahrzeugwerk in Mosel zum Beispiel arbeiten mittlerweile über 7000 Beschäftigte. Diese sind gut ausgebildete und gefragte Angestellte oder Facharbeiter, die ihre Interessen gewerkschaftlich durchzusetzen gelernt haben. Jener Trend stärkt auch die Beschäftigten in den vielen Zulieferbetrieben, die oftmals noch zu schlechteren Arbeits- und Entlohnungsbedingungen arbeiten.
Zeichnet sich Zwickau damit gegenüber anderen Regionen aus?
Auf jeden Fall. Insbesondere die positive Entwicklung der Automobilbranche macht diese Region zu einer der aufstrebendsten Ostdeutschlands. Die offizielle Arbeitslosenquote ist hier mit rund sieben Prozent vergleichsweise gering.
In Ihrer Studie stellen Sie fest, dass Gewerkschaften vor allem für jüngere Menschen attraktiver werden. Warum?
Zum einen erleben wir einen Generationenwandel. Ältere und aufgrund des Wendeschocks oft diszipliniertere Beschäftigte machen jüngeren Platz. Diese sind häufig selbstbewusster und unbefangener. Der verlorene Streik der IG Metall 2003 zur Einführung der 35h-Woche oder der Umstand, dass die Gewerkschaften die Massenerwerbslosigkeit im Zuge der Wende nicht verhindern konnten, spielen für sie keine Rolle. Zum anderen sind die Gewerkschaften für junge Beschäftigte aufgeschlossener geworden.
Viele Arbeitnehmer kritisieren, dass ihre Kollegen im Westen immer noch mehr verdienen als sie. Prägt das auch den Trend?
Durchaus. Ein Beispiel: Der durchschnittliche Bruttoverdienst liegt im verarbeitenden Gewerbe im Osten mit 15,30€ die Stunde rund 8€ niedriger als im Westen. Es verwundert daher nicht, dass viele Beschäftigte das beklagen. Diese Unzufriedenheit kann man schon fast ein ,ostdeutsches Ungerechtigkeitsempfinden' nennen.
Einige sagen aber auch, dass es ihnen nichts bringt, in einer Gewerkschaft zu sein.
Das stimmt. Oft fehlt das Wissen, wofür Gewerkschaften stehen. Dahinter steckt häufig die Erwartung, die Gewerkschaft solle stellvertretend Verbesserungen erwirken. Aber gute Arbeitsbedingungen, Demokratie und Gerechtigkeit müssen kollektiv gegen Widerstände durchgesetzt werden. Ein Gewerkschafter aus Zwickau sagte, wer 89 nicht gesagt hat, dass Demokratie auch weh tut, hat etwas verschwiegen.
Wie geht es den ostdeutschen Gewerkschaften in 25 Jahren?
Langfristige Prognosen sind schwierig. Der positive Trend auf dem Arbeitsmarkt, der Generationenwandel und die Innovationsbereitschaft der Gewerkschaften lassen jedoch eine gute Entwicklung vermuten.

Wissenschaftler in Jena

Marcel Thiel ist 28 Jahre alt und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Er beschäftigt sich vor allem mit gewerkschaftlicher Erneuerung und Arbeitssoziologie. (tgo)

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