Friday, 31 October 2014

Ein gutes Leben ohne Wachstum



Fotos: Tanja Goldbecher

Sie wollen weniger konsumieren, dafür mehr teilen und selber produzieren. Immer mehr Menschen setzen sich für ein gutes Leben jenseits vom Wachstumsdogma der Wirtschaft ein.

 
Zwischen bröckelnden Fassaden leuchten die gelbroten Blüten der Kapuzinerkresse. Sie ragen aus einem Beet, das mit grauen Pflastersteinen abgesteckt ist. Daneben sprießt in einer rostigen Badewanne ein Spitzkohl. Der Blumen- und Gemüsegarten befindet sich nicht in einer abgezäunten Kleingartenanlage. Kohlrabi und Rucola wachsen auf einer offenen Fläche hinter einem Abrisshaus in der Gießerstraße – Mitten im Chemnitzer Stadtviertel Sonnenberg.

Alexander Richter pflückt eine Blüte der Kresse und lässt sich ihren leicht scharfen Geschmack im Mund zergehen. Er ist einer von 15 Hobbygärtnern, der die Erde der verwilderten Wiese umgegraben hat. Statt allein auf seinem Balkon Tomaten zu ziehen, wollte er gemeinsam mit anderen Menschen einen Stadtgarten bepflanzen. Er stieß auf die Gruppe der Gartenutopisten des Vereins Stadthalten. Seit zwei Jahren pflegen die Stadtgärtner eine brach liegende Grünfläche, die von den umliegenden Häusern versteckt wird. Der Eigentümer des Grundstücks hat dem Projekt zugestimmt.

Mehr teilen, selber produzieren und bewusster leben, statt immer nur zu kaufen – das ist der Kern einer stetig wachsenden Bewegung. Sie entstand vor zehn Jahren in Frankreich. Ausschlaggebend für die sogenannte Décroissance-Bewegung war ein neues Bewusstsein über die Endlichkeit der Ressourcen auf diesem Planeten. Sie breitete sich über Spanien und Italien in den angelsächsischen Raum aus. Dort wird sie als Degrowth-Bewegung bezeichnet. Degrowth und Décroissance bedeuten etwa Ent-Wachstum oder Wachstumsrücknahme. Ihre Vertreter kritisieren das Wachstumsdogma des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Deshalb entwickeln sie alternative Lebensweisen und eigene Konzepte.
Alexander Richter würde sich selbst nicht als Hardliner dieser Bewegung bezeichnen. Schließlich steckt auch in seiner Hosentasche ein Smartphone und er fährt mit dem Auto zur Arbeit. Aber viele seiner Prinzipien passen zu der Grundidee. Er isst kein Fleisch, kauft nur im Bio-Laden ein und sieht von weiten Reisen ab, um seinen CO2-Fußabdruck möglichst klein zu halten. „Ich überlege vor jedem Kauf, ob ich das wirklich brauche“, sagt Richter. Er ist 31 Jahre alt und hat Chemnitz für sein Studium der erneuerbaren Energien und Betriebswirtschaft 2003 verlassen. Neun Jahre später ist er in seine Heimat zurückgekehrt, weil er in einem Unternehmen nahe Freiberg Windparks entwerfen kann. Auch außerhalb seiner Arbeit will sich Richter für den Klimaschutz einsetzen. Selbst Obst und Gemüse anzubauen, spart lange Transportwege, reduziert Müll und man kann auf synthetische Dünger verzichten. „Außerdem ist es ein tolles Gefühl, wenn ich sehe, wie meine eigenen Pflanzen wachsen“, sagt Richter. Aber auch der Austausch mit den anderen Stadtgärtnern ist ihm wichtig. Mehrmals pro Woche radelt er zum Garten und trifft dort auf Mitglieder der Gruppe. Es gibt keine Vorschriften, was oder wie angebaut werden soll.
Alexander Richter im Garten
Immer wieder passiert es, dass die Beete verwüstet oder Gießkannen gestohlen werden. Das ist ein Grund dafür, warum die Gartenutopisten für ihr nächstes Projekt doch einen Zaun aufstellen wollen. Einer der Gärtner hat die leere Grünfläche an der Hainstraße Ecke Peterstraße gekauft. Er wollte verhindern, dass ein Händler das Areal für ein neues Gewerbe nutzt. Der Platz ist zudem sonniger und größer. Ein Bauwagen soll dort als gemeinsamer Treffpunkt für die Gärtner dienen. Die Beete und Badewannen ziehen noch in diesem Jahr 100 Meter weiter in den neuen Garten.
Im deutschsprachigen Raum hat sich die Bewegung vor allem unter dem Begriff Postwachstum verbreitet. Auch hierzulande steigt die Anzahl derer, die der Wachstumsideologie den Rücken kehren. 3000 Menschen haben an der internationalen Degrowth-Konferenz teilgenommen, die Anfang September in Leipzig stattfand. Die Organisatoren haben Leipzig ausgewählt, weil es in der Stadt viele Freiräume gibt, die ein anderes Wirtschaften zulassen. Auch in Chemnitz sammeln sich immer mehr Initiativen dieser Art. Im ersten Reparaturcafé der Stadt schrauben Menschen gemeinsam an kaputten Fahrrädern oder bringen so manches Küchengerät wieder in Gang. Im Wohn- und Kulturprojekt Kompott gibt es einen Umsonstladen und eine wöchentliche Volksküche. Und Alexander Richter hat im August gemeinsam mit dem Lokal Lokomov einen Tauschmarkt organisiert, was er alle zwei Monate wiederholen möchte. „Das bringt Menschen zusammen und funktioniert ganz ohne Geld“, sagt Richter. Seine alten CDs hat er gegen ein Räuchermännchen getauscht. „Das braucht man zwar nicht wirklich, aber es hat einen Wohlfühl-Effekt.“
Vor der Stadtkulisse
Der Oldenburger Ökonom Nico Paech ist ein zentraler Vertreter der Postwachstumsökonomie. „Unser derzeit auf Wachstum beruhendes Wohlstandsmodell ist nicht zukunftsfähig“, sagt Paech. Denn selbst durch technischen Fortschritt würde es nicht gelingen Umweltschäden abzuwenden. Er spricht von einer historischen Knappheit von Ressourcen: „Was vor Kurzem noch Peak Oil hieß, hat sich zum Peak Everything gemausert.“ Laut Paech muss ein Lebensstil, der nicht auf Wirtschaftswachstum beruht, schlichtweg eingeübt werden. Die Menschen brauchen Zeit, sich daran zu gewöhnen, weniger Fleisch zu essen, nicht zu fliegen, kein Auto zu besitzen, ihre Kleider länger zu tragen, weniger zu arbeiten und sich dafür mehr mit anderen auszutauschen. „Die Dimension des Übens wird oft übersehen“, sagt Paech. Seine Theorie setzt den Fokus auf mehr Selbstversorgung und Eigenproduktion. Es geht nicht darum, auf jeglichen Konsum zu verzichten – was im Alltag tatsächlich schwierig wäre – sondern der Kultur der Maßlosigkeit Einhalt zu gebieten. Ein Umdenken soll befördert werden, sodass das eigene Handeln stärker reflektiert wird. Daran knüpft eine grundsätzliche Umgestaltung der Gesellschaft an. Die Menschen würden in einer regional verankerten Ökonomie leben, sich untereinander vernetzen und die Natur nicht länger ausbeuten. Ein gutes Leben besteht dann nicht aus mehr Besitz, sondern aus mehr Zeit. So ist der Begriff Zeitwohlstand entstanden.
„Die Zukunft und den langfristigen Einfluss von sozialen Bewegungen vorauszusagen, ist praktisch unmöglich“, sagt Jochen Roose. Er ist Professor für Sozialwissenschaften am Willy Brandt Zentrum der Universität Breslau und forscht zum Thema sozialer und ökologischer Wandel. Roose verweist darauf, dass der Bericht des Club of Rome von den Grenzen des Wachstums bereits 1972 die Umweltbewegung befeuert hat. Die Debatte existiert schon lange, hat sich seitdem aber auch weiterentwickelt und intensiviert. „Wie einflussreich die Thesen werden, ist eine andere Frage“, gibt Roose zu bedenken. Denn sehr viele Faktoren wirken gleichzeitig auf eine Gesellschaft ein.
Immer wird der Stadtgarten verwüstet.
Alexander Richter hat einen ersten strukturellen Wandel vollzogen:  Vier Tage der Woche verbringt er im Büro. Die restlichen drei Tage füllt er mit Selbststudium, Gärtnern, Musik hören oder Besuchen bei Freunden und Familie aus. Es könnte noch eine Weile dauern, bis ihm sein Gemüse den Gang in den Supermarkt erspart. Dieses Ziel verfolgt er aber gar nicht. „Ich habe gelernt, dass Tomaten einen sonnigen Platz zum Wachsen brauchen“, sagt Richter. „Außerdem ist die Schneckenbekämpfung echt schwierig, wenn man keine Chemikalien benutzen will.“ Ihm kommt es auf den gemeinsamen Lernprozess an: Er will das, was die Großeltern noch konnten, neu erlernen und sich damit wieder ein Stück selbst versorgen. Er will nachvollziehen können, wie das, was er isst, entstanden ist. Alexander Richter meint, dass sich jeder Mensch für eine Sache engagieren kann. „Es reicht nicht, den Like-Button anzuklicken. Dann passiert leider nichts.“ Was für ein Engagement das sein könnte, will er nicht vorgeben. „Die Menschen sind kreativ und finden bestimmt etwas.“

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