Sie wollen weniger konsumieren, dafür mehr teilen und selber produzieren. Immer mehr Menschen setzen sich für ein gutes Leben jenseits vom Wachstumsdogma der Wirtschaft ein.
Zwischen bröckelnden Fassaden leuchten die gelbroten Blüten der Kapuzinerkresse. Sie ragen aus einem Beet, das mit grauen Pflastersteinen abgesteckt ist. Daneben sprießt in einer rostigen Badewanne ein Spitzkohl. Der Blumen- und Gemüsegarten befindet sich nicht in einer abgezäunten Kleingartenanlage. Kohlrabi und Rucola wachsen auf einer offenen Fläche hinter einem Abrisshaus in der Gießerstraße – Mitten im Chemnitzer Stadtviertel Sonnenberg.
Alexander Richter pflückt eine Blüte der Kresse und lässt sich ihren leicht scharfen Geschmack im Mund zergehen. Er ist einer von 15 Hobbygärtnern, der die Erde der verwilderten Wiese umgegraben hat. Statt allein auf seinem Balkon Tomaten zu ziehen, wollte er gemeinsam mit anderen Menschen einen Stadtgarten bepflanzen. Er stieß auf die Gruppe der Gartenutopisten des Vereins Stadthalten. Seit zwei Jahren pflegen die Stadtgärtner eine brach liegende Grünfläche, die von den umliegenden Häusern versteckt wird. Der Eigentümer des Grundstücks hat dem Projekt zugestimmt.
Mehr teilen, selber produzieren und bewusster leben, statt
immer nur zu kaufen – das ist der Kern einer stetig wachsenden Bewegung. Sie
entstand vor zehn Jahren in Frankreich. Ausschlaggebend für die sogenannte
Décroissance-Bewegung war ein neues Bewusstsein über die Endlichkeit der
Ressourcen auf diesem Planeten. Sie breitete sich über Spanien und Italien in
den angelsächsischen Raum aus. Dort wird sie als Degrowth-Bewegung bezeichnet.
Degrowth und Décroissance bedeuten etwa Ent-Wachstum oder Wachstumsrücknahme.
Ihre Vertreter kritisieren das Wachstumsdogma des kapitalistischen
Wirtschaftssystems. Deshalb entwickeln sie alternative Lebensweisen und eigene
Konzepte.
Alexander Richter würde sich selbst nicht als Hardliner
dieser Bewegung bezeichnen. Schließlich steckt auch in seiner Hosentasche ein
Smartphone und er fährt mit dem Auto zur Arbeit. Aber viele seiner Prinzipien
passen zu der Grundidee. Er isst kein Fleisch, kauft nur im Bio-Laden ein und
sieht von weiten Reisen ab, um seinen CO2-Fußabdruck möglichst klein zu halten.
„Ich überlege vor jedem Kauf, ob ich das wirklich brauche“, sagt Richter. Er
ist 31 Jahre alt und hat Chemnitz für sein Studium der erneuerbaren Energien
und Betriebswirtschaft 2003 verlassen. Neun Jahre später ist er in seine Heimat
zurückgekehrt, weil er in einem Unternehmen nahe Freiberg Windparks entwerfen
kann. Auch außerhalb seiner Arbeit will sich Richter für den Klimaschutz
einsetzen. Selbst Obst und Gemüse anzubauen, spart lange Transportwege,
reduziert Müll und man kann auf synthetische Dünger verzichten. „Außerdem ist
es ein tolles Gefühl, wenn ich sehe, wie meine eigenen Pflanzen wachsen“, sagt
Richter. Aber auch der Austausch mit den anderen Stadtgärtnern ist ihm wichtig.
Mehrmals pro Woche radelt er zum Garten und trifft dort auf Mitglieder der
Gruppe. Es gibt keine Vorschriften, was oder wie angebaut werden soll.Alexander Richter im Garten |
Vor der Stadtkulisse |
Der Oldenburger Ökonom Nico Paech ist ein zentraler
Vertreter der Postwachstumsökonomie. „Unser derzeit auf Wachstum beruhendes
Wohlstandsmodell ist nicht zukunftsfähig“, sagt Paech. Denn selbst durch
technischen Fortschritt würde es nicht gelingen Umweltschäden abzuwenden. Er
spricht von einer historischen Knappheit von Ressourcen: „Was vor Kurzem noch
Peak Oil hieß, hat sich zum Peak Everything gemausert.“ Laut Paech muss ein
Lebensstil, der nicht auf Wirtschaftswachstum beruht, schlichtweg eingeübt
werden. Die Menschen brauchen Zeit, sich daran zu gewöhnen, weniger Fleisch zu
essen, nicht zu fliegen, kein Auto zu besitzen, ihre Kleider länger zu tragen,
weniger zu arbeiten und sich dafür mehr mit anderen auszutauschen. „Die
Dimension des Übens wird oft übersehen“, sagt Paech. Seine Theorie setzt den
Fokus auf mehr Selbstversorgung und Eigenproduktion. Es geht nicht darum, auf
jeglichen Konsum zu verzichten – was im Alltag tatsächlich schwierig wäre –
sondern der Kultur der Maßlosigkeit Einhalt zu gebieten. Ein Umdenken soll
befördert werden, sodass das eigene Handeln stärker reflektiert wird. Daran
knüpft eine grundsätzliche Umgestaltung der Gesellschaft an. Die Menschen
würden in einer regional verankerten Ökonomie leben, sich untereinander vernetzen
und die Natur nicht länger ausbeuten. Ein gutes Leben besteht dann nicht aus
mehr Besitz, sondern aus mehr Zeit. So ist der Begriff Zeitwohlstand
entstanden.
„Die Zukunft und den langfristigen
Einfluss von sozialen Bewegungen vorauszusagen, ist praktisch unmöglich“, sagt Jochen
Roose. Er ist Professor für Sozialwissenschaften am Willy Brandt Zentrum
der Universität Breslau und forscht zum Thema sozialer und ökologischer Wandel.
Roose verweist darauf, dass der Bericht des Club of Rome von den Grenzen des Wachstums
bereits 1972 die Umweltbewegung befeuert hat. Die Debatte existiert schon
lange, hat sich seitdem aber auch weiterentwickelt und intensiviert. „Wie einflussreich die Thesen werden, ist eine andere Frage“,
gibt Roose zu bedenken. Denn sehr viele Faktoren wirken gleichzeitig auf eine
Gesellschaft ein.Immer wird der Stadtgarten verwüstet. |
Alexander Richter hat einen ersten strukturellen Wandel vollzogen:
Vier Tage der Woche verbringt er im
Büro. Die restlichen drei Tage füllt er mit Selbststudium, Gärtnern, Musik
hören oder Besuchen bei Freunden und Familie aus. Es könnte noch eine Weile
dauern, bis ihm sein Gemüse den Gang in den Supermarkt erspart. Dieses Ziel
verfolgt er aber gar nicht. „Ich habe gelernt, dass Tomaten einen sonnigen
Platz zum Wachsen brauchen“, sagt Richter. „Außerdem ist die
Schneckenbekämpfung echt schwierig, wenn man keine Chemikalien benutzen will.“
Ihm kommt es auf den gemeinsamen Lernprozess an: Er will das, was die
Großeltern noch konnten, neu erlernen und sich damit wieder ein Stück selbst
versorgen. Er will nachvollziehen können, wie das, was er isst, entstanden ist.
Alexander Richter meint, dass sich jeder Mensch für eine Sache engagieren kann.
„Es reicht nicht, den Like-Button anzuklicken. Dann passiert leider nichts.“
Was für ein Engagement das sein könnte, will er nicht vorgeben. „Die Menschen
sind kreativ und finden bestimmt etwas.“
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