Wednesday 25 May 2016

Das Ende der Pappel - in Zwickau kein Einzelfall

Von seinem Balkon aus blickt ein 78-Jähriger statt ins grüne Blätterwirrwarr nun auf eine rote Mauer. Mit dem gefällten Baum ist auch das Zwitschern der Vögel aus dem Innenhof verschwunden.

Von Tanja Goldbecher

Zwickau. Wenn Olaf Böhm früher an der Mauritius-Brauerei vorbei gelaufen ist, hat er den Blick immer gen Himmel gerichtet. Bis zu seiner Wohnung an der Zwickauer Max-Pechstein-Straße waren es von dort aus noch etwa zehn Minuten zu Fuß. Die grüne Spitze der riesigen Pappel aus seinem Innenhof sah er aber schon über die Dächer ragen. Die Augen auf diesen Punkt fixiert, kam er seiner Heimat langsam näher.

Wenn der 78-Jährige heute diesen Weg geht, schmerzt ihn die Aussicht. Denn die Pappel, die noch älter als er gewesen sein muss, gibt es nicht mehr. Im März fällten Arbeiter den Baum, ohne eine Ankündigung, ohne eine Erklärung. Als Böhm sie fragte, wer das veranlasst hat, bekam er keine Antwort. Geblieben ist ein Stumpf, eine mit hellen Holzspänen übersäte Wiese und eine Leere im Innenhof. "Der Baum war doch noch kerngesund", sagt der ältere Mann entrüstet. Äste seien lediglich an stürmischen Herbsttagen herabgesegelt.
Als der frühere Papiermacher bei seiner Hausverwaltung nachfragte, erklärte man ihm, sein Vermieter habe damit nichts zu tun. Auch der Inhaber der angrenzenden Knopf- fabrik habe nichts von der Abholzung gewusst. Tatsächlich stand der grüne Riese auf der Wiese des Grundstücks - es gibt jedoch keinen Zaun, und die Mieter teilen sich den Hinterhof.

Der Eigentümer des Nachbarhauses ist niemand anderes als die Familie des Zwickauer Baulöwen Kurt Fliegerbauer. Er sagt, seine Mieter hätten sich die Fällung gewünscht. Denn die Pappel habe zu viel Licht weggenommen und sei zudem marode gewesen. Olaf Böhms Einsprüche interessieren ihn nicht. "Ich mache keine Nachbarschaftsumfrage, bevor ich einen Baum fälle", fügt er hinzu.

Eine Genehmigung, den über 30Meter hohen Baum zu fällen, musste sich Fliegerbauer nicht einholen. Denn seit die Gehölzschutzsatzung 2010 gelockert wurde, sind Pappeln quasi "Freiwild" geworden. Laut Stadtverwaltung liegt es allein in der Hand des Grundstückseigentümers, welchen Baum er wann fällt. Eine Erlaubnis wird zum Beispiel benötigt, wenn andere Bäume mit einem Stammumfang von einem Meter und mehr von bebauten Grundstücken entfernt werden sollen. Seit 2009 verschwanden rund 4700 Bäume aus dem Stadtbild. Das hat eine Anfrage von Stadtrat Lars Dörner (Grüne) ergeben. Im vergangenen Jahr hat das Umweltbüro mit etwa 1400 genehmigten Fällungen einen Rekord erreicht. Ahorn, Eiche, Linde und Kastanie fielen den Kettensägen am häufigsten zum Opfer.

Olaf Böhm steht mit seiner Frau Margitta über die Brüstung seines Balkons gelehnt. "Man fühlt sich jetzt so beobachtet", sagt sie. Sonne und Tageslicht hätten sie auch mit dem Baum bekommen. Es ist aber nicht nur der Blick ins Grüne, der ihnen fehlt. Auch die verschiedenen Geräusche vermisst das Ehepaar. Bis zu zwölf Vogelpaare hätten in dem Baum gebrütet. Meisen und Stare waren darunter. Nur ein einziges Amselpaar konnte sich ins Efeugestrüpp am Nachbarhaus retten. Für die Böhms ist nichts mehr, wie es einmal war. (mit nkd)

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